Texte

Karin Weber, 21. Dezember 2001

Ein Nachruf

Es gibt Momente im Leben, da ist jedes Wort zu viel. Da Worte nichts mehr klären können, wenn man dem Unwiederbringlichen ausgeliefert ist. Und dennoch begibt man sich dankbar in den Schutzraum der Sprache, um seiner namenlosen OhnmachtHerr zu werden. Es ist ein wirklicher Balanceakt, mit Worten einen Verlust zu benennen, den man nicht wahrhaben möchte.

Gerhard Stengel liebte das Leben mit übersprühender Leidenschaft. Er liebte die Menschen, das Licht und die Farben. Er war beseelt von einemunerschütterlichen Glauben an das Gute, trotz allem, und das aus tiefstem Herzen. Er glaubte an die bereichernde Kraft der Kunst und an ausgleichende Harmonie in der Welt. Unvoreingenommen, ja offenherzig, tolerant und neugierig ging er auf die Menschen zu. Er war ein absolut denkender Mann mit heiterem Gemüt, der sich bis in hohe Alter eine erfrischende Jugendlichkeit bewahrt hatte. Seine vitale Begeisterungsfähigkeit übertrug sich auf viele junge Menschen, die durch seinen Einfluss niemals in ihrem Leben mehr den Pinsel aus der Hand legen und immer ein Skizzenbuch bei sich tragen sollten, um die eigene Form des Schauens niederzuschreiben.

Er ermutigte Generationen, mit den Augen zu zeichnen, selbstbewusster zu sehen. Persönlich veränderte er die mitunter grausame Wirklichkeit, indem er ihr mit seinen Zeichnungen den inneren Frieden zurückschenkte. „Kunst kommt nicht von Können, in erster Linie von Künden.“ So klar und deutlich formulierte er sein Credo, das er intensiv lebte, unbeeinflusst von äußeren Widrigkeiten. Er umarmte die Welt und mit ihr die Menschen. Seinen sehr sinnlichen Arbeiten ist ein nahezu flammendes Leuchten menschlicher Wärme eigen, das vielen die Kälte des Alltags erträglicher machte.„Meine Bildvorstellungen entstehen aus der inneren Beziehung zum Naturverhältnis und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen zum Menschenbild“, schrieb er im 1990 veröffentlichten Buch seiner Reiseskizzen.

Man bedenke: an Freunde und Bekannte versandte er zum Jahreswechsel mitunter 300 bis 400 Grußkarten.

Kurzum, Gerard Stengel war ein unverbesserlicher Optimist, ein Romantiker in einer zuweilen poesiefeindlichen Zeit, ein großartiger, selbstloser Familienmensch, ein wunderbarer Künstler und ein einfühlsamer Pädagoge. Er hatte sich ein mitreißendes, kindhaftes Staunen bis zum Schluss bewahrt. Tobias, sein Sohn, erzählte mir, wie Gerhard Stengel vom Krankenbett aus durchs Fenster das Farbspiel der Sonne im dichten Wolkenmeer bestaunte, so, als hätte er diesesNaturschauspiel zum ersten Mal wahrgenommen. Er war unendlich glücklich, dass er die „Brücke“-Ausstellung im Dresdener Schloss noch sehen konnte. Und da er ein wahrhaftiger Künstler war, ist es – so glaube ich – in seinem Sinne, dass anlässlich des Begräbnisses eine Lobrede auf sein Schaffen mit meinen Worten erklingt.

Gerhard Stengel behauptete sich als exzellenter Landschafter, wunderbarer Stilllebenmaler und tiefsinniger Porträtist. Er suchte in den Porträts den Menschen zu entdecken und verstand es als Maler, sich unverstellt zu naturgegebener Schönheit zu bekennen.

Vor einem halben Jahrhundert kam er aus der Handelsmetropole Leipzig nach Dresden und ließ sich nicht von der in Trümmern versunkenen Stadt niederdrücken, sondern von dem unzerstörbaren Charme dieser Stadt und von der Atmosphäre der Elblandschaft beeindrucken. Natürlich war er kein Träumer, kein weltvergessener Romantiker und auch kein Ateliermaler, der über die Trümmer hinwegsah. Er hat sie selbstverständlich gesehen, und er hat sie, seiner Chronistenpflicht nachkommend, als Zeitzeuge gemalt. Nur hat er sie nicht zum bestimmenden Inhalt seiner künstlerischen Arbeit gemacht. Vielen Bildern aus den fünfziger Jahren haftet ein Hauch von Vergänglichkeit in der Schönheit an. Aber wesentlicher für das Werk des Malers waren die farbsinfonischen und atmosphärischen Lobeshymnen auf die Unvergänglichkeit und die sich stetig erneuernde Schönheit der Natur und damit des menschlichen Lebensraumes.

Er wurde noch im kaiserlichen Deutschland als Untertan des sächsischen Königshauses in Leipzig geboren, besuchte dann nach gründlicher Handwerkerlehre die Hochschulen in Leipzig und Dresden und schloss seine Malstudien als Meisterschüler der Österreichischen Akademie der bildenden Künste in Wien ab. Und obwohl er dann seit den fünfziger Jahren mit Leib und Seele an der Dresdener Hochschule lehrte, hätte er doch gerne den Ruf als Nachfolger Oskar Kokoschkas als Leiter der Schule des Sehens in Salzburg angenommen. Dass er damals nicht durfte, gereicht den Dresdnern nicht zur Ehre, ist aber der Dresdner spätimpressiven Malerei zugute gekommen, denn etwas Wienerisches hatte den Leipziger geformt und das Dresdnerische behutsam wachsen lassen, wie es Dr. Horst Zimmermann in einer Laudatio formulierte.        

 Als wacher Zeitgenosse erlebte Gerhard Stengel alle Höhen und Tiefen des Dresdner Kunstlebens seit den Formalismus-Diskussionen mit. Er hatte sich außerhalb der Führungs- und Flügelkämpfe einen Aktionsraum als Leiter der Werkstätten für Wandmalerei, Technologie und Farblehre geschaffen, der ihn nicht in Gefahr brachte, aufgerieben zu werden.

Sein von spätimpressionistischer Auffassung geprägter Malstil, mit nur gelegentlich experimentellen Ausflügen in die Abstraktion, und seine von den politischen Tagesthemen weit entfernte Thematik erlaubten ihm, sich mehr oder weniger unangetastet von den politischen Querelen zu entfalten. Ein halbes Jahrhundert hat ihn Dresden gehalten – aber nicht abgehalten, die Welt zu bereisen, staunend und wissend in unendlich vielen Skizzenbüchern einen Hauch der Schönheiten dieser Welt festzuhalten. Das ernsthafte Bestreben, Landschaft nicht im Sinne des Naturalismus täuschend ähnlich zu wiederholen, sondern das empfindsam Wahrgenommene in Klangräumenfein abgestimmter Farbharmonien zu komponieren, eine mit der Natur vergleichbare Harmonie zu entwickeln, kennzeichnete seine künstlerische Herangehensweise.

Eigentlich verführt Gerhard Stengel den Betrachter seiner Werke, ihm in irreale Welten zu folgen, denn es sind seine Empfindungen, es ist eine Faszination des Naturerlebnisses, der man begegnet: seinem Naturschauspiel, das er erlebte und das er in der Suche nach dem Malerischen neu und selbstständig formulierte. Die Landschaften sind Botschaften, die uns berühren, weil sie uns angehen, weil sie uns über den Moment des Staunens hinweg Lebens-Zeichen geben, die in unseren Alltag hineinwirken. Dasselbe gilt für die Blumenbilder und Stillleben. Es sind Werke seines Glücksempfindens, seiner Liebe zum Lebendigen, seiner Sehnsucht nach Harmonie und Poesie, die seine expressive Farbsprache mitunter in orchestrale Fülle ungehemmt zum Klingen brachten. An seiner Kunst ist abzulesen, dass die Natur sein Partner war, mit dem er Zwiesprache hielt, dem er mehr anvertraute als philosophischen Lehransprüchen und kunstgeschichtlichen Leitlinien.

Gerhard Stengel ließ sich nicht verbiegen. Er blieb er selbst. Ein faszinierender Mensch, der uns ein unvergängliches Vermächtnis hinterlassen hat, das von seinem unsterblichen Geist und seiner unsterblichen Seele kündet. Und dennoch wird er uns fehlen…

In seinem Sinne rufe ich nun aus, infiltriert von seiner positiven Lebensenergie und seiner unversiegbaren Lebensfreude: Es lebe das Leben! Das verführerische Leuchten in seinen Augen, das in uns das Feuer der Leidenschaft entzünden konnte, werden wir als kostbaren Schatz in unserem Herzen auf dem weiteren Weg mit uns tragen. Danke, Gerhard Stengel!