Texte

Hans-Ulrich Lehmann, 2005

Über den Augenblick hinaus

Aus den Skizzenbücher von Gerhard Stengel

Skizzenbücher sind Sammlungen von Beobachtungen, Sinneseindrücken oder Einfälle bildnerischer Ideen in schneller, selten vollendeter Ausführung. Das Unvollendete, Offene der Skizze gehört zu deren wesentlichen Eigenschaften. Spätestens seit Beginn des 20. Jh. wird gerade dieser Wesenszug der Skizze zunehmend geschätzt. Gerade das Unvollendete, das Unfertige, ist es, was den Betrachter fasziniert. Die Abfolge der Blätter in den Skizzenbüchern weisen eine breite Spannweite von Improvisation von flüchtigen bildhaften Notizen bis zu ausführlichen Studien der vertrauten wie einer fremden Welt auf. Fragmentarisches oder Aphoristisches erweisen sich dabei auch als Reflexionen des Augenblicks. Die Linie kann beschreibend sein, in der Verkürzung und Flüchtigkeit aber auch skripturale Züge annehmen. Andere Blätter zeichnen sich durch ein dichtes Gefüge von Linienbündeln aus. Der besondere Reiz liegt in der Unmittelbarkeit der Notiz. Die Spannweite reicht von wenigen Strichen bis zur ausführlichen Notiz. Nicht selten wächst, gerade im Werk Gerhard Stengels, den Skizzenbüchern die Funktion eines Tagebuchs zu. Der Charakter der Linie wandelt sich von Blatt zu Blatt von der beschreibenden Form zur deutenden Form. Die Linie kann tänzelnd oder streng über das Papier geführt werden. Oder in dichten Strukturen und Knäueln das Gewimmel eines wuselnden Marktes oder Volkstreiben versuchen zu erfassen. Kalligraphische Verkürzungen mit sparsamsten Andeutungen wechseln sich ab mit dichten Gefügen von Linienbündeln. Skizzenbücher sind darüber hinaus aber auch Tagebücher der psychischen Verfassung. Die Wucht des Eindrucks einer fremden Welt und Kultur bestimmen in besonderer Weise den Charakter der Skizzenbücher Gerhard Stengels. Der Künstler war aber auch ein Getriebener, der gerade in den jährlichen Studienreisen in die unterschiedlichsten Länder und damit in die verschiedensten Kulturkreise wesentliche Anregungen für seine Arbeit empfing. Die verschiedenartigen Lebensweisen regten ihn an.


Bleistift, Kugelschreiber oder Filzstift sind die zeichnerischen Mittel, mitunter ergänzt mit eingeschriebenen Farbnotizen für eine spätere Umsetzung in eine autonome Arbeit im Atelier. Nicht selten finden sich farbige Kreiden oder lavierte oder aquarellierte Blätter. Für Josef Hegenbarth ist die stenogrammartige Verkürzung der Bildideen charakteristisch, die für den Außenstehenden kaum entschlüsselbar sind. Aus Ernst Hassebrauks Skizzenbüchern spricht eine schwungvolle, bewegte linearen Sprache, die barocke Bewegtheit und Dynamik erkennen lässt. Für Gerhard Stengel kommt seit Mitte der 1950er Jahre die in Wien empfangenen Anregungen der Lehrer der Wiener Akademie zum Tragen.


1958 erste Reise nach Sibirien als Tourist, nicht als künstlerische Studienreise des Verbandes Bildender Künstler, die ihn sicher wie andere Künstler auch in die vornehmen Künstlerhotels am Schwarzen Meer geführt hätte. Ähnliche Ziele verfolgte Werner Tübke mit seiner Reise nach Samarkand und Usbekistan im gleichen Jahr. Stengel interessierte die weniger offizielle Landschaft, das Leben weit hinter Moskau in Sibirien. Und so nimmt er die beschwerliche Reise hinter den Ural bis zum Altai auf sich, um eine möglichst unverfälschte und echte russische Landschaft, russische Menschen kennen zu lernen. Etwas Abenteuerlust mag auch mitgespielt haben.. Damit hob sich der Künstler von propagandistisch soz-realistischen Bildern einer strahlenden Sowjetunion ab. Das wirkliche Sibirien mit all seinen Dissonanzen und einer ungeahnten Weite finden ihren Niederschlag in einer realistischen Sprache. Die Linie dominiert und bildet das kompositorische Gerüst. Die Aquarellfarben in dem linearen zeichnerischen Gerüst sind schwer. Den kulturpolitisch aufgewerteten heroischen Sowjetunion-Darstellungen setzte Stengel 1958 eine realistische, ungekünstelte Liniensprache entgegen, die die spröde Schönheit und die Probleme real erfassten mit den weiten Landschaften, kärglichen Häusern, unpathetischen Straßenzügen, sperrigen Hafen- oder Industrieanlagen, aber auch monumentalen Gebirgslandschaften. Im Atelier in Dresden erfolgte dann die Umsetzung der empfangenen Eindrücke in großformatige bildhafte Aquarelle, in denen die Farbflächen zumeist ohne zeichnerische Gerüste gegeneinander gesetzt werden. Damit hob sich der Künstler von den kulturpolitisch geforderten pathetisch erzählerischen Gemälden zahlreicher Zeitgenossen in der DDR ab.


Gerhard Stengel hat die Kultur des Skizzenbuchs in besonderer Weise gepflegt. Sie werden zu Belegen für die rege Reisetätigkeit in europäische und asiatische Länder, aber auch nach dem amerikanischen Kontinent. Insofern war Gerhard Stengel ein schöpferischer Unruhegeist, der die Impulse fremder Kulturen benötigte, um dann im heimischen Elbtal oder ab 1966 in Ahrenshoop in immer neuen Anläufen die Landschaft zu beobachten.


Die Landschaft des Elbtals im Dresdner Raum, der Ostseeküste bei Ahrenshoop oder die Boddenlandschaft lassen ebenfalls eine Reduktion der zeichnerischen Form erkennen und zugleich bieten sie dem Betrachter in der verknappten Darstellungsweise sehr viel eigenen Spielraum. Aber immer wieder wechseln sich barocke Bewegtheit in Salzburger Motiven oder Beobachtungen im Elbtal mit erzählerischer Dichte in Beobachtungen etwa der Straßenszenen von Kairo, New York, Mexiko oder China ab. Häufig bevorzugt der Künstler dafür einen erhöhten Standpunkt. Daneben stehen dynamische hieroglyphenhafte Verkürzungen von Gebirgslandschaften oder Wolkenformationen. Selten finden sich figürliche Motive. Da sind die Hippie-Typen aus Amsterdam eher eine Ausnahme. Vertraute Landschaften wie die aus dem Elbtal oder von Ahrenshoop leben stärker aus der Farbe heraus. Atmosphäre, Klang der barocken Silhouette der durch den Krieg gekennzeichneten Stadtsilhouette, atmosphärische Stimmungen in Ahrenshoop oder Elbtal bilden eine weitere Themengruppe. Einen besonderen Platz nehmen die Arbeiten aus China und Vietnam ein, in denen sich, ganz ähnlich den Aquarellen Noldes und Pechsteins von deren Asienreisen vor dem Ersten Weltkrieg, in der Auseinandersetzung mit der asiatischen Kunst des Aquarells und der Tuschmalerei eine neuartige Offenheit und Leichtigkeit die Handschrift Stengels auflockern.


Die Linienführung entwickelt sich weniger aus der Intuition, vielmehr gibt sie Auskunft über den stetig wach aufnehmenden Verstand, der sich zeichnend bzw. zeichnerisch das Besondere und Charakteristische des Motivs erschließt. Skizzieren als Klärungsprozess auf der einen Seite, Farbe als Aquarell oder mit Farbstiften zur Schilderung atmosphärischer Erscheinungen. Einhergehend mit den fast jährlichen Reisen in die verschiedensten Länder Europas, Asiens und auf den amerikanischen Kontinent wandelt sich der Charakter der Skizzenbücher in dem sie gleichzeitig auch Tagebücher dieser Reisen werden. Zwar spielt die Besonderheit des jeweils besuchten Landes eine Rolle, aber die lineare Zeichenweise versucht vielmehr die Vielfalt des Lebens in variierenden, unterschiedlich dichten Strichlagen einzufangen. Die Skala linearer Ausdrucksformen basieren auf einem Reichtum von Strukturen, mit denen der Rhythmus der Großstädte erfasst wird. In den Stadtdarstellungen interessiert den Künstler das quirlige dynamische Stadtleben. Nicht selten bevorzugt der Künstler dabei einen mehr oder weniger erhöhten Standpunkt.


Es überrascht, dass der Künstler in ungewöhnlichem Umfang überwiegend den „seelenlosen“ Kugelschreiber und den ebenfalls scheinbar emotionslos fließenden Filzstift verwendet. In diesem Zusammenhang entwickelt der Künstler eine besondere Kalligraphie, die mitunter später auch in Siebdrucken vervielfältigt werden: kurvende, kreisende Linien in unterschiedlich dichten Liniengefügen. Der unterschiedliche Duktus der Linie lässt aber auch Rückschlüsse auf die sich stetig wandelnde psychische Verfassung des Künstlers im Fluss der Linien erkennen oder zumindest ahnen. Gerhard Stengel ging stets zeichnend sehend durch die Landschaft. Der Ausdruckswert liegt so im Geflecht der Linien selbst, aus dem sich Straßenzüge herausschälen. Ausdruck ergibt sich nicht aus dem Ausdruck des Bleistiftes, dafür aber aus der Dichte der Struktur der Linien oder aus deren bedingungsloser Reduktion.


Ständiges Zeichnen als inneres Bedürfnis. Von der Kalligraphie der Linie von Slevogtangeregt, findet Gerhard Stengel seine eigenen Handschrift. Große Variabilität im Ausdruck in den Blättern. Skizzenbücher künden von der Kunst des Augenblicks, aber auch von einem inneren Getriebensein als ständiger Herausforderung wechseln ab mit Ruhemomenten. Insofern tragen die Skizzenbücher in besonderer Weise autobiographische Züge. Zeichnend klärt der Künstler den optischen Eindruck einer fremden Welt, die er sich über das zeichnende Schauen aneignet und wohl auch begreift. Diese Spannweite ist enorm. Beschreibende Linie wie noch 1958 aus den Sibirien-Tagebüchern wandelt sich zu dynamisch bewegten, deutenden Lineatur mit Autonomie.


Besondere Qualität weisen die Aquarellskizzen aus China, Vietnam auf, die ganz in der Tradition der Aquarelle Pechsteins oder Noldes von deren Südsee-Reisen 1913/1914 stehen. Reine Farbflächen und das Weiß des Papiers, Spiel von Positiv- und Negativ-Form , Leichtigkeit der chinesischen Lineatur/Kalligraphie. Lockerheit und Leichtigkeit sonst kaum in den Reiseskizzen der andren Länder. Unterschiedlichkeit der Kulturen erweist sich dabei weniger als Hindernis sondern vielmehr als Ständig neue Herausforderung für die Kunst des Augenblicks. Diesen Aquarellen stehen immer wieder offene Zeichnungen mit der andeutenden sparsamster Lineatur für Gebirgszüge, Wolkenformation oder verlorene Palmen am Rande der Wüste in Ägypten. Bewegungsrhythmen haben den Vorzug vor detaillierter Genauigkeit.


Die Auswahl kann nur einen Einblick in die reiche Hinterlassenschaft der Skizzenbücher Gerhard Stengels geben. Ihr besonderer Reiz liegt in der Unmittelbarkeit und Spontaneität des Erfassens. Das in den Skizzenbüchern gesammelte Material bildete die Basis für das reiche Werk großformatiger Aquarelle, in denen sich die schnellen Notizen der Beobachtung vollenden. Der besondere Reiz der Skizzen bleibt jedoch ihre Unmittelbarkeit und Unverfälschtheit des ersten Eindrucks in einer ungemein reichen linearen Ausdrucksweise.