Texte

Horst Zimmermann

Der Maler Gerhard Stengel in Dresden und Ahrenshoop

Die Dresdner Malerei des 20.Jh. hat sich in einem Spannungsfeldzwischen dem verspäteten Impressionismus, dem Dresdner Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit zu einer stilistisch uneinheitlichen breit gefächerten Strömung entwickelt, in der die realistischen, von postimpressiven und nachexpressionistischen Auffassungen bestimmten Richtungen neben den neusachlichen und konstruktiven Tendenzen eine prägende Traditionslinie darstellen. Als Gerhard Stengel, nach seiner Studienzeit in Leipzig und Wien, nach Dresden kam, konnte er sich, unberührt von der Formalismusdiskussion, in die von Gussmann und Feldbauer, Sterl und Kokoschka in den ersten Dezennien geschaffene Hochschultradition einer expressiven realistischen Malerei einbringen. Neben seiner zunächst farblich zurückhaltenden Ölmalerei fand er im Medium der uralten Wasserfarbenmalerei ein eigens und die Dresdner Malerei bereicherndes Ausdrucksmittel, das ihm eine eindringliche, schwärmerische und einfühlsame Naturdarstellung als Ausdruck seines Diesseitsbezugs im Porträt, in der Landschaft und im Stilleben ermöglichte.

Ausgehend von der Wiener Schule, die neben kleinen Landschaften der unmittelbaren Nachkriegszeit besonders im feierlichen Bildnis der Großmutter von 1945 manifestiert ist, blieb er zunächst einer vom Atelierlicht bestimmten und weiche Grautöne bevorzugenden nuancenreichen Malerei verpflichtet. Dieses feine feldbauersche Grau bestimmte lange Zeit seine Palette. Und wohl besonders dann, wenn er über das Monumentale als bloßer Impression hinausgehen oder einem Thema nachdrücklich mehr Gewicht geben wollte, gab er seinen großflächigen Kompositionen einen sonoren Klang zwischen dem tiefen Umbra und dem stumpfen Russischgrün, zwischen Terra di Siena und Preußisch Blau.

Schon in den fünfziger Jahren bevorzugte er ob seines lebhaften Temperaments und seines vom visuellen Naturerlebnis geprägten Realitätssinnes die al prima Malerei wegen ihrer unkonventionellen Direktheit und Unmittelbarkeit. Das Spontane bestimmte seine Handschrift und das Zupackende überlagerte den langwierigen Arbeitsprozess mit lasierenden Farben. Damit begann der Siegeszug des Aquarells. Mit der Beherrschung des Aquarellierens formte sich das Gefühl für die unglaubliche Modulationsfähigkeit des mit Gummi arabicum gebundenen Pigments von lichter Helligkeit zu sonorer Tiefe und möglicherweise erklärt sich auch mit der Steigerung der Leuchtkraft seiner Farben die Hinwendung zu einer gewissen Expressivität. Gleichwohl bleibt er der Ölmalerei treu, nur macht die nachdrückliche Hinwendung zum Aquarell deutlich, wie sehr seine emotional bejahende Daseinsfreude seine künstlerische Arbeit bestimmte und das in Dresden und in Ahrenshoop geschaffenes Werk auszeichnet.

Natürlich war Gerhard Stengel bewusst, sich an beiden Orten mit festgelegten traditionellen Motiven, der Panoramasicht in Dresden und den Strandbildern, den Steilufern und Windflüchtern der Ostsee, auseinandersetzen zu müssen. Weder die realen Gegebenheiten noch die kunsthistorisch relevanten Bildvorstellungen ließen sich umgehen, doch suchte er von Anfang an seine subjektive Sicht der Wirklichkeit, seine Empfindungen und Gefühle niederzuschreiben, um die Brühlsche Terrasse und ihre sie umgebende Architektur und die Ostsee- und Boddenlandschaften mit ihrer eigenartigen Lichtatmosphäre selbständig erfassen zu können.

Über ein halbes Jahrhundert hat ihn Dresden nicht losgelassen und ebenso lange zog es ihn Jahr für Jahr an die Küste zum Malen. Und doch hat er, so weit das weit verstreute Werk heute überschaubar ist, in der unendlich scheinenden Vielzahl von Motiven beider Orte niemals den emotionalen Bezug im malerischen Erfassen verloren und allein durch diese nacherlebbare sinnliche Freude an der farbigen Gestaltung des Wirklichen begeisterte Zustimmung und Verständnis gefunden. Er vertraute dem Wohlklang der Farbe und ihrer optischen Schönheit während des Malens und wusste die unendlichen Farbvariationen und sensibel aufeinander reagierenden Farbnuancen zum Klingen zu bringen. Er sprach selbst von benachbarten Farbklängen, die miteinander kämpfen und ihn wissen ließen, wie er ihr Fließen ausnutzen könnte bis ein Farbklang zum andern kommt,“… bis das ganze in einer großen, meinen Vorstellungen entsprechenden Einheit zusammengeht, in der Farbe gegen Farbe steht und visuell mein Erlebnis ausdrückt.“

Gerhard Stengel wusste aber auch die Tektonik seiner Landschaften, hier wie da, aufzuspüren und in der Rhythmik des Farbigen seine Bilder zu komponieren von den Vordergründen in meist dunklen und satten Farben über die Weite und Tiefe suggerierenden Mittelgründe, im klassischen Bildaufbau zumeist ocker- und grünfarben, bis zu den Fernen und Höhen im strahlenden Blau hinter den immer faszinierenden Wolkengebilden. Insofern ist er natürlich ein Traditionalist, der sich nicht der schon von Canaletto bis Kokoschka und Kirchner entdeckten Schönheit der Dresdner Altstadt mit ihren phantastischen Türmen hinter der Augustusbrücke widersetzen wollte. Und genauso selbstverständlich verschloss er sich nicht der wunderbaren Formenvielfalt der Wolken über der See, die schon die alten Holländer begeisterte und die von den Expressionisten wiederentdeckt worden war. Sie ist es, die seinen Ahrenshooper Boddenlandschaften ein ganz charakteristisches Gepräge geben.

Bevor Gerhard Stengel jedoch seinem Dresdner Domizil ein ständiges Refugium an der See zur Seite stellen konnte, stand seine Staffelei an vielen Orten, an die ihn der Zufall führte. Schon 1946 malte er am Alten Strom in Warnemünde, da waren seine Farben noch stumpf und glasig, und mehr zeichnend als malend suchte er die Fischkutter am Kai als Charakteristika des Nordens einzufangen. Wenig später malt er, von der Mecklenburger Schweiz angeregt, mit vehementem Zugriff den Breiten Luzin im Nationalpark Feldberger Seenlandschaft. Dann interessierten ihn wieder der breite Strand und die Promenade in Warnemünde mit dem bekannten Leuchtturm. Des Öfteren malte er auch in Göhren auf Rügen und hier wie da erzählt er in genrehafter Mitteilsamkeit von seinen beobachtungen und bebgegnungen, von den paddelnden Kindern und den sonnenhungrigen Städtern am Strand. Während dieser Studienreisen nach Rügen oder weiter nach Schweden entdeckte er vom Rügendamm aus das großartige Panorama der Hansestadt Stralsund und zweifellos ließ er sich von den herrlichen alten Backsteinbauten am Strelasund zum Wettstreit mit der von den barocken Bauten bestimmten Silhouette Dresdens herausfordern.

Schließlich zog ihn die alte Künstlerkolonie Ahrenshoop an, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einem sommerlichen Treffpunkt von Künstlern und Literaten geworden war. Zunächst faszinierte ihn die einladende Weite des Strandes, später dann die dunklen Wasser des Saaler Boddens, von Anfang aber begeisterten ihn die morgendlich über dem Bodden und abendlich über der Ostsee zu beobachtenden Farbspiele, die ihn erregten und zum Malen herausforderten. Sie wurden, wie einst bei Emil Nolde, zum Credo seiner Landschaften.

Der weiße Strand und die Weite der See öffneten Gerhard Stengel, dem Binnenländer, der an große Architektur gewöhnt war, die Augen für die Größe der Natur und auf das in ihr liegende Gesetz des Einfachen und Schlichten, das er in den Fischerkaten, in den Weiden an den Boddenwiesen, in Wustrows Seglerhafen mit den sonoren Farbklängen der Zeesenboote und den dunklen Schilfwänden fand. Hier erarbeitete er sich, verwöhnt von der herrlichen Silhouette Dresdens, von den nach dem Krieg wiedererstandenen Schätzen der Barockarchitektur, der Brühlschen Terrasse und den alten Elbbrücken, ein neues Verständnis für das Landschaftsfach.

Seine Bildvorstellungen der 50er Jahre waren eher von dunklen Ruinenflächen, verbrannten oder von Bomben zerfetzten Wäldern, dunstigen Elbauen ohne belebendes Grün bestimmt gewesen. Wildgesträuch und Barackenbauten versperren die Sichten und anstelle schnell erfasster Eindrücke in flockiger Farbigkeit sind die Landschaften in dunklen Abstufungen von rötlich-braunen Tönen und wie mit breiten Schwämmen hingewischt Ausdruck ernster Melancholie und Stille. In manchen Elbbildern dieser Jahre ist der graue Fluss im Dunst wie eingefroren und seine Schönheit lässt sich unter den verwaschenen grauen Schleiern nur erahnen.

Und doch suchte er nach dem lebendigen Ausdruck einer aus der Todesstarre wieder erwachenden Stadt, hellte sich allmählich die Malerpalette auf und mischten sich verhaltene rote und grünblaue Farbnuancen unter die sonoren Grauklänge bis die Wiederaufbaubilder Dresden in eine frische Morgenluft tauchten und vor dunkel dräuenden Himmeln die neuen Bauten am Altmarkt oder später in der Neustadt regelrecht im hellen Sandstein erstrahlten. Es muss vielleicht nicht besonders betont werden, aber es ist doch wichtig zu wissen, dass Gerhard Stengel den Wiederaufbau Dresdens von der ersten Tätigkeit der Zwingerbauhütte bis zum Aufbau des Schlosses und der Behelmung des Hausmannsturmes wie ein besessener Dokumentarist begleitete.

Die Schwammbilder werden von zeichnerisch und malerisch interessanten Sichten auf beräumte Ruinenfelder mit ihren widersinnig scheinenden Straßenführungen auf exakt festgehaltenen Baracken und auf Neubauten mit ihren bunten, spinnengleichen Kränen und Oberleitungsdrähten als konstruktive Gerüste verdrängt. Ausruhend von den Architekturbildern fesselt ihn dann immer wieder der große Elbbogen an der Pillnitzer Landstraße, deren Wasserflächen mit weiten Wolkenfeldern korrespondieren. Hier ist der Einfluss seiner Skizzen von den Studienreisen nach Vietnam zu spüren. Das kleinlich Zeichnerische wird von wundervoll schwingenden Linien in großen Farbflächen mit den feinen Nuancierungen, wie sie die japanischen Farbholzschnitte auszeichnen, überlagert.

Es entstanden neue Stimmungsbilder. Dunkle Regenwände, orangefarbene Abendhimmel, frostige Winterlandschaften mit unter Schnee erstarrten Rhododendron und immer wieder der Blick durch die kahlästigen Buchen auf die im abendlichen Winter erstrahlenden Lichter Dresdens. Sie entstanden schon im neuen Atelier in Oberloschwitz und verraten viel von dem Romantiker, der diese stillen Motive ebenso liebte wie die aufregende Silhouette von Dresden.

Nachdem er sich in Ahrenshoop ein ständiges Sommeratelier einrichten konnte, offenbarte sich ihm das farbig differenzierte Mosaik der Boddenwiesen mit ihren begrenzenden Weiden, sensibilisierte ihn diese an sich karge Landschaft für den ästhetischen Wert des Naheliegenden. Oberloschwitz und Ahrenshoop rückten hier eng zusammen. Nur gab ihm der Norden etwas Entscheidendes, das Licht nämlich, das an der Küste sehr oft subjektiv als Frische der Luft wahrgenommen wird.

Das unter den Wettern und zu den verschiedenen Tageszeiten sich wandelnde Licht wurde sein wichtigstes Kompositionselement, man spürt es nicht nur am Spiel des Lichts mit den weichen Schattierungen, sondern auch und ganz entschieden in der Wahl der Farben und ihrer Tonwerte. Licht äußert sich unmittelbar in Farbe und nicht nur in seinen Ostseelandschaften, es beeinflusste entschieden auch die Landschaften an der Elbe. In den vielen Jahren der Beschäftigung mit den, verglichen mit der Barockarchitektur, eher unscheinbaren Motiven am Bodden, erhielt Gerhard Stengel ein feines Gespür für die Stimmungswerte des Farbigen und er konnte sie in den aufbrausenden lauten Stürmen oder in der andächtig machenden Stille seiner Bilder mit Dresdner- oder Ostseemotiven fühlbar machen. Aufziehende Gewitter zeichnen sich durch den spannungsvollen Gegensatz zwischen dem Weiß-grün der Stille und dem Gelb-rot der Unwetterfront aus, und Cumuli in strahlendem Weiß vor der Bläue des Firmaments können wie Siegeshymnen triumphieren. Diese Wetter hat Gerhard Stengel immer mit den staunenden Augen des Binnenländers bewundert und mit dem untrüglichen Gefühl für das Naturerlebnis in künstlerisch verdichteter Form wiederzugeben gewusst.

Die Beobachtung der gleichen Wetterphänomene in Dresden hat seinen Stadtlandschaften in der Farbrhythmik und in der vom Licht bestimmten Konstruktion eine große Lebendigkeit in ihrer expressiven Realistik gegeben. Wie oft er auch die Brühlsche Terrasse und die Augustusbrücke in den verschiedenen Kompositionsschemata malte, sie sind niemals bloße Wiederholungen des Sichtbaren, sondern drücken in anfänglich zurückhaltenden, später in starkfarbigen Farbkompositionen Befindlichkeiten in Korrespondenz mit dem Thematischen aus. Zeit seines Lebens hat er sich diese Selbständigkeit des Gestaltens bewahrt, und ist dennoch immer wieder bewundernd der Natur gegenübergetreten.

In Dresden bot sich ihm aus seinem Atelier auf der Akademie über die Brühlsche Terrasse das von der Dreikönigskirche beherrschte Bild der sich in die Elbauen einschmeichelnden Neustadt oder er konnte von der Carolabrücke aus das unvergleichliche Panorama der barocken Altstadt in unendlichen Varianten poetisch verklären oder seine Wandlung in den letzten Jahren realistisch dokumentieren. In Ahrenshoop dagegen hatte er nur den Schifferberg, eigentlich ein kleiner Hügel, der ihm einen Weitblick erlaubte. Aber letztlich war er auf solche Hilfen nicht angewiesen, weil er, in Dresden wie in Ahrenshoop, von einer Phantasiehöhe aus selbst die Raumtiefe erdachte und bestimmen konnte.

So unvergleichbar die Dresdner und die Ahrenshooper Bilder sein mögen und so unterschiedlich sie den Maler herausforderten, sie verführten ihn in über vierzig Jahren zu immer neuen Gestaltungen und überraschenden Ansichten. Da ist es gleich, ob Bauernhäuser mit Reetdächern vor dunklen Weiden stehen, der helle Ocker einer Sandgrube das satte Grün der Moorwiesen aufbricht, ein blauer Wasserwagen dem Wiesengrün eine farbige Nuance zuwirft, farbige Badetücher im Winde flattern und lustige Signale senden, oder ob die Dresdner Silhouette mit ihren architektonischen Kostbarkeiten diesseits oder jenseits der Elbe bewundernde Blicke auf sich lenkt. Fischerkaten und Kathedrale sind sicher nicht vergleichbar, aber sie eint derselbe Himmel, die eine Sonne und das Gespür des Malers für die Ästhetik des Schöpferischen im Einssein mit der Natur. Die Ahrenshooper Fischerhäuser und die sich in die Natur einschmiegenden Ferienhäuser haben kaum namhafte Baumeister aufzuweisen, anders als die Dresdner Bauten mit der Kunstakademie von Lipssius, mit dem Landtag von Wallot, mit der Kathedrale von Chiaveri oder der Oper von Semper. In Stengels Bildern ist das letztlich auch nicht wichtig, hier tritt die malerische Schönheit ins Kalkül des Betrachters und gerade sie ist es, die seinen Bildern ihre künstlerische Wertigkeit gibt.

Auffallend ist auch, dass die Titel seiner Bilder kaum Bezug nehmen auf dargestellte Gegenstände sondern vielfach Gefühlswerte in den Vordergrund stellen, wie „Heiterer Bodden“, „Heißer Sommertag“, „Stille eines Sommertages“ und dass sie manchmal erzählend sind wie Genrebilder und dennoch ohne agierende Staffage auskommen. Es lag wohl in seiner Absicht, die Betrachter seiner Bilder ins Bild zu holen, ihnen über den ästhetischen Reiz seiner Bilder das Gefühl zu geben, dass sich in ihnen im gewissen Sinne auch ihr Leben spiegelt. Er einte die einfachen Ahrenshooper Fischerhäuser und die großartigen Dresdner Architekturen unter einen alles überspannenden Himmel, und oft lässt er einen Regenbogen aufstrahlen, der seine leuchtenden Farben wie eine verlockende Brücke in die Tiefe des Raumes führt und ferne Horizonte überwinden hilft.
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